2019

Die Schönheit erkennen

Maria Will

Worin liegt die wahrhaftigste Natur des malerischen Werks von Giancarlo Moro? Wo entzündet sich der Funke der Einzigartigkeit dieses Werkes, das wirklich rätselhaft und in sich verschlossen ist, um das eigene Herz abzuschirmen? Nichtsprachliches und Unübersetzbarkeit sind Begriffe,

die von der Kritik mit der Malerei von Giancarlo Moro in Verbindung gebracht werden1. Der Künstler selbst (der sein Werk mit einer konzentrierten Denkübung begleitet) hat immer wieder die ausgesprochen mentale Natur seines Malens betont; ausserdem sieht er in der Zeit, im Licht, in der Materie und im Raum – und in ihren unterschiedlichen Beziehungen zueinander – den Anfang und den Schluss seiner kreativen Suche. Die Beharrlichkeit, mit der er diesem Werkverständnis treu bleibt - kompliziert in seinen extrem engen und zugleich potentiell unendlichen Grenzen - sowie die Qualität eines jeden seiner Bilder, haben die verschiedenen Kommentatoren veranlasst, die Strenge der Malerei von Giancarlo Moro hervorzuheben, die von der ausführenden bis zur moralischen Ebene reicht2.
Zu Beginn der vergangenen Siebzigerjahre Jahre bewegte sich die angeborene Neigung Moros zum künstlerischen Ausdruck - verstärkt und genährt durch das Wissen um die Meisterwerke der Kunst, die er bei den unermüdlichen Museumsbesuchen in London, München, Genf oder Bern (Städten, in denen Giancarlo Moro gelebt hat) kennenlernte – entschieden auf die abstrakte Kunst hin. Die Richtung, die seine künstlerische Suche nahm, wurde vielleicht auch durch das Echo der internationalen figurativen Kultur im Raum Locarno (einer Region, in der Giancarlo Moro seit 1970 ansässig ist) mitbestimmt, für die vor allem Persönlichkeiten wie Ben Nicholson prägend waren und die von den Ateliers von Remo Rossi ausstrahlte, wo sich einige der bedeutendsten Protagonisten der abstrakten Kunst zusammengefunden hatten. Dieses Echo verband sich in Giancarlo Moros persönlicher Geschichte mit der Offenbarung des Werkes von Nicholson, die zu den fruchtbarsten Erfahrungen seines Londoner Aufenthalts im Jahre 1968 zählt. Und dieses Echo passt auch gut zur Anziehungskraft, welche die intellektuelle Klarheit der transalpinen figurativen Kultur auf Moro ausübte, vor allem einer ihrer grössten Meister, Le Corbusier, ein verborgener, aber ständiger Bezugspunkt für den Künstler, ebenso wie die poetische Tiefe von Paul Klee. In Giancarlo Moros Profil kann man also die Bedeutung der 'nordischen' Ausrichtungsachse für die Entwicklung der künstlerischen Szene in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten in unserer Region erkennen, einer Achse, der man das ihr zustehende Gewicht geben muss, gegenüber dem Pol Mailand und Lombardei, der sich vor allem der informellen Kunst zuwandte.
Mit zunehmender Reife zeigt sich im malerischen Diskurs von Giancarlo Moro seine Zugehörigkeit zur breiten Kategorie des Minimalismus: Man beobachtet eine zunehmende, extreme Reduktion der Kompositionselemente zugunsten einer verstärkten Aura. Es ist ein Verfeinerungsprozess, der sich in Moros Werk im idealen Dialog mit verschiedenen Vertretern der sogenannten "Maler des Schweigens" vollzieht; von denen, die seinem Herzen am nächsten stehen, sind zumindest Antonio Calderara und Agnes Martin zu nennen, die den wesentlichen Kern der Malerei so stark herausgraben, dass man von fast asketischen Dimensionen sprechen kann. In Giancarlo Moros Malerei sind auch die kraftvollen Wahrnehmungsprovokationen des zeitgenössischen Künstlers Gerhard Richter gegenwärtig, der durch seinen überwältigenden Ideenreichtum besticht.
Im Hinblick auf ein einheitliches Verständnis der uns zeitlich nahestehenden Kunst kann es sinnvoll sein, die künstlerische Suche von Giancarlo Moro mit der von Gianfredo Camesi zu vergleichen, wobei die Unterschiedlichkeit des Werkes der beiden ausser Frage steht. Während Moro sich ausschliesslich der Malerei widmet,
verwendet Camesi vielfältige Ausdrucksmittel, doch beide betonen ganz stark die Fatalität einer Demarkationslinie - einer Linie des Übergangs und der Osmose -, die sich entlang der beiden Hauptachsen Horizontalität und Vertikalität manifestiert. Daraus entstehen Räume, deren höchste Bedeutung die Leere ist. Ein Begriff, der, wie wir wissen, mit dem Einfluss des Ostens auf die gesamte Moderne zusammenhängt. Giancarlo Moro selbst weist immer wieder darauf hin, dass seine künstlerische Reflexion dünne, aber hartnäckige Fäden mit der alten fernöstlichen Kultur und Kunst webt, die er sehr bewundert. Fäden, die sich vor allem im Rhythmus des Blicks und der Einladung zur Kontemplation offenbaren, um schliesslich zu einer klaren Vision zu gelangen3.
Wer das Glück hat, im Haus und Atelier von Giancarlo Moro in Cavigliano zu verkehren und die Ordnung und das harmonische Gleichgewicht zu geniessen, das sowohl im Inneren als auch im Garten herrscht, kann sich persönlich überzeugen, dass die ästhetischen Prinzipien, die der Künstler in seinen Werken anwendet, auch konkret in seinem Leben, in seinem Alltag zu finden sind. Darin offenbart sich die Beziehung des gegenseitigen Aufeinanderbezogenseins mit Ruth Moro, die ihrerseits Bilder schafft, deren Komposition auf Elementen beruht, die Zeichen und Farbe miteinander verschmelzen und gleichzeitig einfach und komplex sind. Zusammen bilden Giancarlo und Ruth ein besonders stark verbundenes Künstlerehepaar, das gerade in seiner Vorliebe für das formale Universum des Ostens eine Grundlage für gegenseitiges Verständnis und intensiven Austausch findet4.
In den Bildern von Giancarlo Moro sieht man eine Abfolge von Räumen, die an eine architektonische Struktur erinnern und in denen sich Übergänge abzeichnen, die für den ihnen folgenden Betrachter zu einer Reise der Erkenntnis und der geistigen Weiterentwicklung werden. Schon seit den Anfängen in den 1970er Jahren war das Experimentierfeld das Quadrat, verstanden als Oberfläche zur Gegenüberstellung geometrischer Primärfiguren, in dem der Künstler mit den daraus entstehenden strukturellen Spannungen jongliert. Sehr bald jedoch zeigte es sich, dass die Figur, die gleichzeitig Form ist, nicht von der Farbe getrennt werden kann: daraus folgt als nächster Schritt die ganz von der Farbe beherrschte Oberfläche, die von da an zum unbestrittenen Protagonisten des Bildes wird. Nachdem auch der evokative Aufhänger des Titels zugunsten von "Ohne Titel" wegfiel, in einem unaufhaltsamen Subtraktionsprozess, der auch das geringste Element ausschliesst, welches das Fliessen des Blicks unterbrechen könnte, konzentrierte sich alles auf die Substanz der Farbe und auf die Dialektik der Grundierungen, die sich durch unterschiedliche Texturen auszeichnen. Giancarlo Moro versteht es, derart auserlesene und einzigartige Farbtöne zu schaffen, dass diese schon an sich zu einem Erkennungszeichen für sein Werk werden, aber vor allem versteht er es, wie man die grossartige, wenn auch unsichtbare Anstrengung aufrecht erhält, die ein Werk erfordert, das mit unendlich kleinen Verschiebungen spielt: das heisst mit der Variation, die immer in der Lage ist, das Neue in der Ähnlichkeit aufzuspüren, wie Konrad Tobler in seiner Analyse Das malerische Vokabular von Giancarlo Moro5 treffend argumentiert hat. Strukturiert durch die Summe der bedeutungstragenden Einheiten (deren Höhepunkt die Diptychon-Komposition bildet), lassen sich im Werk dieses Künstlers in zeitlichen Abständen immer wieder neue Entwicklungen beobachten, die unvorhersehbare Möglichkeiten eröffnet. Wie vor kurzem mit der Einführung eines aus kleinen Quadraten bestehenden Gitters in das "semantische Vokabular“, das voll und ganz dem Giancarlo Moro liebgewordenen Prinzip der Prägnanz in der Wesentlichkeit entspricht. Die Wahrnehmung dieses inhaltlichen Reichtums lässt keinen Zweifel offen: Vermittelt durch das, was wir nicht anders als mit Schönheit bezeichnen können, wird er für den Betrachter zu einer ästhetischen Erfahrung, die über das Bild hinaus auch die Umgebung einbezieht, und deren Ziel auch bedeuten kann "sich zu verlieren". Eine überzeugende Antwort auf die Eingangsfrage.


1 . So Marco Franciolli und Konrad Tobler in Giancarlo Moro. Opere / Werke / Oeuvres 2006-2010, Lugano, Museo cantonale d'arte, 2011.
2 . «Moros Malerei ist von hoher Qualität und moralisch anspruchsvoll», bemerkte Walter Schönenberger 2002 (Spazi scorrevoli. Considerazioni sull'astrattismo di Giancarlo Moro, vgl. www. giancarlomoro.ch); im Katalog zur Einzelausstellung im Manoir de la Ville de Martigny 2006 sprach Flaminio Gualdoni von «Ethik der Klarheit»; bei der Eröffnung der Ausstellung für die Associazione Triangolo in Locarno 2016, sagte Dario Bianchi: «In seinem täglichen Umgang mit Formen und Farben strebt [Giancarlo Moro] die Perfektion an; eine Perfektion, die nie affektiert ist, sondern seine ästhetischen und, ich würde sagen, auch ethischen Absichten manifestiert und lesbar macht» (cfr. www. giancarlomoro.ch).
3 . Für die Besucher der Ausstellung, zu der diese Publikation erscheint, hat Giancarlo Moro im Juli 2018 den folgenden Text mit dem Titel Freude an den Zwischenräumen geschrieben: «Seit ewig wird ein Weg als geistiges Abenteuer konzipiert und führt zu einer Gegenüberstellung mit Zeit, Licht und Materie im Raum. / Der Zwischenraum wird von einem Weg geschaffen, der Pausen und Richtungsänderungen aufzwingt oder wachruft und wie in einem japanischen Garten zur Kontemplation einlädt. / Der Blick wird somit auf Situationen mit anderen Eigenschaften verlegt und konfrontiert sich mit entgegenwirkenden Elementen, die eine Koexistenz suchen. / Diese Skansion des visuellen Weges offenbart neue Zeitspannen der Zwischenräume wie Pausen der Stille. / Die Teile trennen sich und fügen sich zusammen, um ein neues Ereignis hervorzurufen, und durch die Zwischenräume entsteht eine neue Vision.»
4 Zu den Implikationen dieses Zusammenseins als "Künstlerehepaar" siehe die Äusserungen von Claudio Nembrini (Soli e in coppia, Bellinzona, Galleria Pangeart, 2004, Faltprospekt) und von Jean-Michel Gard im Ausstellungskatalog Giancarlo Moro, Martigny, Le Manoir de la Ville de Martigny, 2006.
5 Siehe Giancarlo Moro. Opere / Werke / Oeuvres 2006-2010, zit., ohne Seitenangabe.

mehr ...

2011

Gegen den Automatismus des Sehens

Das malerische Vokabular von Giancarlo Moro, Konrad Tobler

I.
Was ist bei, vor und in der Malerei von Giancarlo Moro zu sehen?
Was ist beim Sehen zu beobachten?
Was bleibt nach dem Sehen?

Diese Fragen gehen a priori bereits davon aus, dass es ein Etwas gibt, das auch zu benennen wäre. Obwohl – weil der Gegenstand dieser Malerei das Ungegenständliche ist – sich diese der Sprache radikal entzieht. Freilich teilt sie dieses „Schicksal“ mit der ungegenständlichen Malerei seit Kandinsky, Malewitsch über Mondrian bis hin zu Rothko. Zugespitzt ist die Tatsache des Nichtsprachlichen jedoch dadurch, dass hier keine Theorie eines „Geistigen in der Kunst“ mitspielt. Die Malerei von Moro ist reine selbstreferentielle Malerei ohne Überbau (zumindest ohne ausformulierten Überbau – was unmittelbar auf das Sehen und Wahrnehmen zurückführt). Oder, um das kruder zu sagen: Die Malerei besteht aus dem Material des Trägers, der Farbe / den Farben, den schichtweisen Spurungen von Pinsel und Spachtel. Punkt. Mehr nicht – Material, in das sich das Sehen zu vertiefen hätte, bis es in Wahrnehmung umschlägt.
Das Wort der "Spurungen" führt zu einem Anhaltspunkt, an dem man sich festhalten kann, nicht als Strohhalm, sondern als Annäherung, die ja konkret jedes Mal geschieht, die man geschehen lässt, lässt man sich auf ein Bild ein. Das ist ein langsamer Prozess, der den Automatismus des Sehens, der das schnelle Sehen und das Wiedererkennen-Wollen durchkreuzt. (Und noch bevor wir uns nur der Malerei genähert haben, ist bereits die vierte Dimension ins Spiel gekommen: die Zeit.)

"Spurungen" also. Das bedeutet, dass da nicht ein Irgendetwas ist, sondern dass das Ungegenständliche seine Textur, seine Texturen hat. Nun öffnet dieser Begriff selbst verschiedene Ebenen, unter anderem die folgenden drei, die für die Malerei von Bedeutung sein könnten:

Textur (lat. textura, «Gewebe») ist
– die physikalische Charakterisierung von Oberflächen
– in der Sehwahrnehmung die strukturelle Beschaffenheit einer zusammenhängenden
Oberfläche
– in der Geologie die räumliche Anordnung eines bestimmten Gesteingemenges.

Physikalisch ist die Malerei bestimmt durch die Oberflächenspannung, geologisch gewissermassen von einer Tektonik, die sich aus den Schichtungen ergibt – wenngleich Moros Malerei keineswegs gestisch-opulent ist, sondern aus vielen dünn aufgetragenen Farbschichten besteht. Eben das führt zurück zur Sehwahrnehmung, zum Wahrnehmen der „strukturellen Beschaffenheit einer zusammenhängenden Oberfläche“. Wenn die Malerei eine Struktur hat, dann gibt es auch eine Form von Gesetzmässigkeiten, insbesondere deswegen, weil Moros Malerei im besten Sinne etwas Serielles hat, sich in Wiederholungen abspielt, die ihrerseits nicht Repetitionen sind, sondern daraus resultieren, dass der Künstler in jedem neuen Werk bereits gefundene Strukturen variiert oder durch teils kleine Veränderungen neu formuliert.

"Textur", "Struktur", "Gesetzmässigkeiten", "neue Formulierung": Das erinnert an Sprache. In der Tat gingen die Strukturalisten – und vor ihnen bereits Walter Benjamin – davon aus, dass es nicht nur die Sprache (oder Grammatik) der eigentlichen Sprache gibt, sondern dass auch in anderen Bereichen von "Sprache" gesprochen werden könne, also von der "Sprache der Malerei" oder von der "Ecriture de la peinture". So etwa in einer allgemeinen These Claude Lévi-Strauss: „Wenn die Malerei eine Sprache genannt zu werden verdient, dann insofern, als sie wie jede andere Sprache in einem besonderen Code besteht, dessen Termini durch Kombinationen von weniger zahlreichen und selber einem allgemeinen Code zugehörigen Einheiten hervorgebracht werden."

II.
Es ginge nun also darum, in der Malerei von Giancarlo Moro eine Art von Vokabular zusammenzutragen. Bei diesem Vorgehen ist das Dispositiv der Malerei die eine Seite, deren Wahrnehmung die andere. Das Dispositiv ist nicht zu entwickeln ohne die Wahrnehmung – wobei diese, dem ursprünglichen griechischen Wort "aisthesis" entsprechend, mehr als nur das Sehen umfasst: Einerseits meint aisthesis "Sinn" und "Sinnesorgan", andererseits ist es bezüglich der Wahrnehmung nicht auf das unmittelbar sinnliche Erfassen beschränkt, sondern kann jegliches Gewahrwerden bezeichnen; sogar das innere Empfinden ist, aber ganz unsentimentalisch, dabei mitgemeint.
Um den Überblick zu bewahren und weil diese Malerei eine höchst komplexe "Maschinerie" ist, fällt die Wahl für das Vokabular auf eine Art Liste (wie es ja dem Wörterbuch entspricht). Und in das Konstatieren dessen, was in dieser Malerei aufscheint, ist untrennbar verwoben (eingetextet) das, was mit dem Sehen geschieht oder wie die Malerei wirkt.

Die Formate
Dominierend ist das Quadrat, wenn auch nicht immer das buchstabengenaue. Das Quadrat ist der Kern verschiedenster geometrischer Relationen, zu denen auch das Rechteck gehört. Es birgt sich im Quadrat eine schier unendliche Bezüglichkeit, wie das im Bändchen „Das Quadrat“ von Bruno Munari dokumentiert ist. Dort findet sich auch ein Gedicht des konkreten Dichters und Theoretikers Carlo Belloli:
„das Feld / Quadrat / der Platz / Quadrat / die Stadt / Quadrat / das Gefängnis / Quadrat / das Grab / Quadrat / das Zelt / Quadrat / die Haut / Quadrat / die Pupille / Quadrat / das Quadrat / ist / die Gesellschaft“.
Es ist nicht überspitzt, wenn die Malerei von Moro in solche Relationen gesetzt wird, die sich ja auch in der ganzen Geschichte der Malerei finden, bis hin zu Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ und den Quadraten der Konkreten Malerei. Moros Quadratur des Quadrats zeigt aber schon in sich selbst die Fülle, die sich aus dieser einfachen Form schöpfen lässt – und zeigt schon allein mit dieser Form das immanente architektonische Denken, von dem noch die Rede sein wird.

Die Teilungen
Alle Bilder sind in sich zwei-, drei- oder manchmal auch mehrfach geteilt, sei das vertikal (meistens) oder horizontal. Diese Teilungen ergeben Bilder im Bild. Die Masse der Teilungsgeometrie sind – im Sinne des Seriellen oder eben des Vokabulars – immer ähnlich, aber nie gleich. Sie folgen, so scheint es, einer mehr intuitiven denn konstruktiv-analytischen Vorentscheidung. Die Teilungen definieren die Relationen im Bild selbst und schaffen rhythmische Grundstrukturen. Und sie ziehen Grenzen innerhalb des Bildes, Übergänge, Fügungen und Fugungen, in denen Verschiedenstes und doch innerlich Verwandtes aufeinander stösst. Es sind Zwischenzonen des Inter-Esses.

Die Malweisen
Das Geteilte ist nicht nur geometrisch geteilt, sondern auch malerisch. Die verschiedenen Teile zeichnen sich durch differente, in sich in vielfacher Weise differenzierte Mal-Strukturen aus. Es gibt eher „ruhige“ und eher „unruhige“, dunklere und hellere Flächen, die zueinander in einem genau austarierten Verhältnis oder in einem Dialog stehen – wie Frage und Antwort, wie Licht und Schatten, wie Ton und Echo. (Die Vergleiche zeigen einmal mehr, wie sehr die Sprache an ihre Grenzen stösst, wenn es darum geht, das Vokabular einer Malerei in Begriffe zu fassen.) Die Strukturen scheinen auf den ersten Blick einer Zufälligkeit zu folgen, die aber nie eine Zufälligkeit der Peinture ist. Dafür ist diese allzu nuanciert aufgebaut und geschichtet. Es ist eben das, was sich erst nach und nach im Auge entwickelt. Dabei zeigt es sich auch, dass in der Ruhe der Flächen eine Bewegtheit der Malerei verborgen ist und umgekehrt in der Unruhe das Rhythmische von Pinselstrich, Pinselschlag und Spachtel. Die Flächen zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein Zentrum haben; es ist ein All over, das über die Ränder hinauswachsen könnte, derart nach aussen und nach innen tendenziell infinitum – was in keiner Weise als undefiniert oder unvollendet, bruchstückhaft verstanden werden darf.

Die Gegenständlichkeit
Gegenstand dieser Malerei ist, unverkennbar, die Malerei selbst. Es ist das Spiel mit der Monochromie, die doch keine ist, ein Übergang von der Fläche in die Tiefe. Dass der Blick dennoch und wohl vorschnell die malerischen Strukturen mit reellen Strukturen verbindet, macht dieses Spiel umso reizvoller – und zeigt, dass der Automatismus des Sehens sich immer wieder über das Sehen selbst legt oder anders: Die Erinnerung an Gesehenes macht, dass man Birkenrinde oder Felsen, Flechten oder glitzerndes Wasser sieht. Dabei ist diese Malerei immer und durch und durch reine Invention, verbunden mit viel Intuition, die an das Anklingen und Aufklingen von Melodien denken lässt.

Die Schichtungen und das Licht
Die Langsamkeit, durch die sich diese Malerei auszeichnet, ist geprägt durch die vielen Schichtungen, die erst die Haut der Malerei ergeben. Was oberflächlich als monochrom erscheinen mag, entwickelt sich nach und nach zu einer Polychromie der Töne – wobei das Entwickeln oder Entfalten sich mit der Zeit im Auge abspielt. Dieser Prozess ist vergleichbar jenem im Fotolabor, wenn das potenzielle Bild, vorerst nach der Belichtung noch unsichtbar, im Bad der Entwicklungslösung nach und nach aufscheint, an Klarheit und an Konturen gewinnt. Wie in der Fotografie – wiederum eine Metapher – ist dieser Prozess einer des Lichts: Die Malerei ist ein Spiel mit dem Licht, oder das Licht spielt in der Malerei, wie es in der Skulptur die entscheidende Rolle spielt. Die Malfläche fordert vom Auge in etwa das ab, was in der Dämmerung mit dem Sehen geschieht: Adaption. Man könnte gewissermassen sagen, der Wahrnehmung dämmere es langsam, wenn diese Malerei nach und nach aufscheint. Nicht zufällig ist es eine tendenziell dunkle Malerei, von der ja Theodor W. Adorno sagte, nur diese, die dunkle Malerei sei eine radikale Malerei. Im Prozess der Wahrnehmung wird, ebenfalls wieder nach und nach, auch klar, dass das Dunkle nicht das Düstere ist, sondern vielmehr das in sich ebenso Nuancierte und Differenzierte wie sein Gegenteil: das Helle, das Weisse. Schwarz ist entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil nicht einfach schwarz. In Moros Malerei zeigt sich das, wenn nach und nach das Blau auftaucht, das seinerseits ein Spektrum von harten bis zu weichen, von leisen, geradezu ephemeren bis zu tiefen, lange nachklingenden Tönen kennt.
(Zum Licht und zur Belichtung ist ein Nachtrag notwendig: Es empfiehlt sich, die Gemälde von Moro unter den verschiedensten Lichtbedingungen zu betrachten – und vor allem das Streiflicht als Sehhilfe einzusetzen. Das bedeutet auch, dass hier nicht nur die Bewegung und Beweglichkeit des Auges gefordert ist, sondern auch, wiederum wie bei Skulpturen, die physische Bewegung. Es gilt, um die Bilder herumzugehen, nach vorne und zurück, nach links und nach rechts; es gilt, diese Gemälde, die mit Fragen der klassischen Perspektive nichts zu tun haben, aus verschiedenen Perspektiven anzusehen.)

Der Bildraum und die Architektur
Aus all dem erhellt: Moros Malerei ist nicht nur eine radikale, sondern auch eine, die in die Tiefe geht. Sie öffnet Bildräume. Vielleicht könnte man, um das zu pointieren, sogar sagen: Moros Verfahren und Vorgehen seien architektonischer Natur, zumindest architektonischen Denkweisen vergleichbar; darauf verweist bereits der Objektcharakter der Gemälde, die ja nicht zweidimensional, sondern durch den Einbezug der Seitenflächen dreidimensional sind, ja, sie sind, bezieht man den Faktor der notwendigen Seh-Zeit ein, vierdimensional, um das nochmals explizit zu betonen. Architektonisch bedeutet auch: Die Bilder werden nach einer Idee, die vorerst noch vage ist, nach und nach gebaut, weitergeplant, gefügt, verfugt. Dazu dienen in vielen Fällen die „studio-progetti“, die wie mögliche Bausteine oder Teilelemente verschiedene Variationen und Kombinationen ermöglichen, ohne dass bereits alles festgelegt wäre. Erst daraus entwickelt sich nach und nach jene Bildtiefe, von der schon wiederholt die Rede war.

Das Serielle: die Wiederholung
Ist einmal die Nuanciertheit eines einzelnen Gemäldes wahrgenommen, so wendet sich der Blick nun auf das Werk. Es ist prononciert ein serielles. Die Serie ist Konzept. Dabei meint Serie nicht Repetition, sondern Variation. Nicht das Immergleiche ist intendiert, sondern, im Gegenteil, das Immerneue im Ähnlichen. Das Konzept geht davon aus, dass Phänomene nie fertig erkannt, zu Ende geschaut und gedacht sind. Die Wiederholung ist nicht das Ein-, vielmehr ist sie das Vieltönige. Sie ist die Neugierde, die sehen will, was noch alles verborgen sein könnte in einem Phänomen, das doch schon ausgeschöpft scheint. Mit einem Wort von Kierkegaard: Wiederholung ist Erinnerung nach vorne. Im Werk spielt sich ab, was im einzelnen Bild geschieht, nämlich eine zunehmende Vertiefung. So gesehen lässt sich Moros Werk durchaus metaphorisch sehen – als eine Form, sich der Realität gegenüber zu verhalten: als erkenntnistheoretisches Modell.

III.
Da capo – das bedeutet im Fall der Malerei von Moro: nochmals hinsehen, sich nochmals um die Bilder herumbewegen. Auf die Gefahr hin, Dinge zu wiederholen, sei diese Bewegung hier gewagt. Wiederholung ist auch beim Anschauen nicht blosse Repetition, sondern, wenn schon, Revision: Wiedersehen und das heisst: erneut sehen, neu und anders sehen, anderes sehen.
Schicht um Schicht um Schicht also: Wer die Gemälde von Giancarlo Moro rasch anschaut und meint, etwas gesehen zu haben, hat nichts gesehen. Denn es gilt, sehend eine ähnlich langsame Intensität zu entwickeln, wie sie der Maler malend praktiziert. Es gilt, Schicht für Schicht zu entdecken, das Auge zu assimilieren, Farbtönungen, Nuancen und leise Bewegungen wahrzunehmen. Wahrnehmen heisst verstehen, ohne dass dabei nur der Verstand eine Rolle spielen würde. Wahrnehmen ist gewissermassen ein sinnliches Verstehen. Nicht dass die Bilder von Giancarlo Moro eine Sehschule wären, das keineswegs. Aber sie fordern das Sehen heraus. Die Bilder wollen, dass man sich bewegt, herumgeht, den Blickwinkel wechselt, nochmals hinschaut, näher geht und wieder Distanz gewinnt. Erst dann entfaltet sich die Textur des Bildes. Textur meint nochmals, aber etwas anders gewendet, Verdichtung und Überlagerung, meint Korrespondenz und Gegensatz in einem: Jedes Bild bildet in sich verschiedene Räume mit verschiedenen Atmosphären und Schwingungen, Tiefenstrukturen, in die das Auge auf verschiedene Weise eindringen kann. Eben wegen dieser Bild-Architektur ist das rasche Sehen zum Scheitern verurteilt – weil sich komplexe Gebäude nicht durch einen kurzen Blick auf die Fassade erschliessen, die blosser Schein sein könnten. Die Geheimnisse liegen viel tiefer, im Inneren.


1. Walter Benjamin, "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen": "Jede Äusserung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefasst werden, und diese Auffassung erschliesst nach Art einer wahrhaften Methode überall neue Fragestellungen."
2. Baudelaire zur Malerei von Delacroix: "Ein Bild ist eine Maschinerie, an der alle Systeme für ein geübtes Auge erkennbar sind."
3. Zur Methode der Liste vgl. Georges Perec: «In jeder Aufzählung finden wir zwei widersprüchliche Versuchungen; die erste besteht darin, ALLES zu erfassen, die zweite darin, wenigstens einiges zu vergessen; die erste möchte die Frage endgültig abschliessen, die zweite sie offen lassen; zwischen dem Erschöpfenden und dem Unvollendeten scheint mir somit die Aufzählung vor jedem Gedanken (und vor dieser Einordnung) das eigentliche Erkennungszeichen für dieses Bedürfnis zu sein, alles zu benennen und miteinander zu verbinden, ohne das die Welt () für uns orientierungslos bleiben würde.»
4. "Die Dämmerung ist ein räumliches Phänomen. Sie ist eine Atmosphäre, die allmählich alles einhüllt, verschattet, unbestimmt macht, Grenzen verwischt und den Raum zu einem dichten Etwas verschwimmen lässt, in dem man sich befindet." (Gernot Böhme, "Theorie de Bildes")

Uebersetzung Margrit Hagenow-Caprez

mehr ...

2011

Giancarlo Moro

Marco Franciolli, Direktor-Kurator Museo Cantonale d’Arte Lugano

Die Giancarlo Moro gewidmete Ausstellung fügt sich in das Ausstellungsprogramm des Museo Cantonale d’Arte ein, das im Tessin tätige Künstler zeigt, deren Entwicklung von einer Kontinuität in der Bildsprache gekennzeichnet ist. Diese programmatische Ausrichtung setzt den Akzent auf die spezifischen Fragen der aktuellen Malerei und versucht aufzuzeigen, wie es gelungen ist – mit der Überwindung der sprachlichen und stilistischen Umwälzungen der Moderne – diesem Ausdrucksmedium wieder einen zentralen Platz im zeitgenössischen ästhetischen Diskurs zuzuweisen.

Eine vorherrschende Charakteristik der ästhetischen Dimension des XX. Jahrhunderts ist der Verzicht auf jegliche Bedeutung ausserhalb der Malerei. Viele der prägnantesten Revolutionen der Bildsprache fanden innerhalb eines künstlerischen Diskurses statt, der sich endlich vom Zwang zur Mimesis und zur erzählerisch-darstellenden Funktion der Kunst befreit hatte. In seinem berühmten, 1890 in der Zeitschrift „Art et Critique“ erschienenen Beitrag „Définition du Neo-traditionalisme“, unterstrich bereits Maurice Denis, dass es nötig sei, um den Akademismus zu überwinden, „Se rappeler qu’un tableau, avant d’être un cheval de bataille, une femme nue ou une quelconque anecdote, est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées.“ Es überrascht nicht, dass dieses Zitat seither oft gebraucht und missbraucht wurde – es bleibt absolut treffend und gültig im Zusammenhang mit der modernen abstrakten Malerei und bietet auch im vorliegenden Fall einen erhellenden Zugangsschlüssel.
Die Malerei von Giancarlo Moro fokussiert und konzentriert sich ganz auf die Bildfläche, auf ihre Gliederung, auf die Modulation von unzähligen Ton- und Struktur-Varianten: Ein Bild ist, wie Maurice Denis bemerkte, eine Oberfläche, auf der Zeichen und Farben angeordnet werden. Die Beharrlichkeit, mit der er die Qualitäten der Malmittel erforscht, haben Giancarlo Moro dazu geführt, jeden kleinsten Bestandteil des Gemäldes mit grosser Sachkenntnis zu behandeln, in einer Suche, welche in einigen Aspekten – insbesondere der Abwesenheit eines zentralen Punktes im Bild – an die Erfahrungen des colour field erinnert. Die Oberflächen erhalten durch das Entfernen von Malmaterie einen besonderen, geschliffen und durchsichtig wirkenden Effekt. Vertikale und horizontale Linien markieren die Grenzen zwischen den Farbtönen, Feldern mit gleichmässigen und flachen Farbaufträgen werden solche gegenübergestellt, die sich aus winzigen Zeichen zusammensetzen, in einem Wechsel von Hell und Dunkel, der den Flächen unterschiedliche Tiefe verleiht. Diese Wirkung ist offensichtlich nicht von der Absicht geleitet, eine räumliche Illusion zu erzeugen, sondern rührt allein von der Tonalität der Farben her und wird noch verstärkt durch die unterschiedliche Ausprägung des Glanzes oder der Mattheit der Oberflächen, die manchmal eine samtene Qualität erhalten, welche die Tiefe der Schwarztöne unterstreicht, während in anderen Fällen die Oberfläche vom Auge als wächsern und weich wahrgenommen wird.
In der Malerei von Giancarlo Moro, die von grosser Strenge geprägt ist, sind der Gegenstand und die Eigenschaften des Werks eins: die Bedeutung des Gemäldes liegt in seinen chromatischen, zeichenhaften und materiellen Charakteristiken, in der Art, wie diese unsere Wahrnehmung bestimmen und eine ästhetische, sinnliche und emotionale Erfahrung hervorrufen, welche von der visuellen Sprache in keine andere Sprache übersetzt werden kann.

Uebersetzung Margrit Hagenow-Caprez

mehr ...